Rede vom 08. September 2016 im Deutschen Bundestag anlässlich der ersten Lesung des Haushaltsgesetzes 2017 – Folgen des BREXIT
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren!
Ich danke ausdrücklich Herrn Kollegen Röttgen für seine Lobrede auf die Arbeit unseres Außenministers; denn nun kann ich mich in den folgenden Minuten auf Europa beziehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Begriffe „dramatische Zäsur“ oder „historischer Bruch“ werden oft allzu leichtfertig für aktuelle Ereignisse verwendet; aber wenn ein Anlass diese Begriffe verdient hat, dann das Brexit-Votum im Vereinigten Königreich. Dieses Votum, das ein konservativer Premierminister, David Cameron, aus niederen Beweggründen ausgelöst hat, lässt für die Menschen und für die Wirtschaft dort tiefe Einschnitte erwarten. Aber auch auf die verbleibenden 27 EU-Mitgliedstaaten hat der Brexit enorme Auswirkungen. Diese müssen wir gemeinsam mit unseren Partnern begrenzen, aber eben nicht mit Renationalisierung, nicht mit Rechtspopulismus und nicht mit irgendwelchen scheinbaren Lösungen, sondern mit einem deutlichen Ruck und mit gemeinsamen Schritten für ein gemeinsames Europa.
Die Hoffnung, von der neuen Regierungschefin Theresa May ein Datum für die Austrittserklärung zu erfahren, wurde bislang enttäuscht. Frau May erklärte aber bereits, dass sie Lösungen nach dem Vorbild der Schweiz und Norwegens ablehne. Um nicht eine dauerhafte Phase der Unsicherheit entstehen zu lassen, ist es die Pflicht der britischen Seite, endlich den Austrittsprozess zu starten. Es ist nicht unsere Aufgabe, ein Konzept vorzulegen. Nein, es ist die Bringschuld der britischen Regierung.
Es ist mehr als bedauerlich, dass schon jetzt, bevor eine Austrittserklärung abgegeben worden ist, Angebote mit weitreichenden Kompromissen gemacht werden. Das Papier, das unter anderem vom Kollegen Röttgen, den ich vorhin ausdrücklich gelobt habe, vorgelegt worden ist, halte ich für strategisch unklug; denn inhaltlich kommt es der von den britischen Austrittsbefürwortern erträumten Rosinenpickerei viel zu weit entgegen. Es verspricht vollen Zugang für Waren und Dienstleistungen, stellt aber gleichzeitig das für mich wichtigste Grundprinzip zur Disposition, nämlich die Freizügigkeit. Für Herrn Röttgen ist UK ein
zentraler Partner, den man nicht bestrafen darf. Dem stimme ich voll und ganz zu. Nicht bestrafen heißt aber auch nicht zwingend, zu belohnen.
Deutschland und die EU-27 haben ein vitales Interesse an der Verteidigung der Freizügigkeit, weil sie ökonomisch ein unverzichtbares Element des Binnenmarktes ist, weil wir die Freizügigkeit brauchen und weil mit einem Entgegenkommen gegenüber UK andere zur Nachahmung eingeladen würden. Wie wollen wir denn die Schweiz und Norwegen dazu bewegen, nach ihren Modellen noch Freizügigkeit zu gewähren, wenn sie dem Vereinigten Königreich erlassen wird? Für mich ist die Freizügigkeit das entscheidende Merkmal, an dem die Bürgerinnen und Bürger Europas den Vorteil dieses Europas erkennen. Deshalb bin ich der Auffassung, dass wir die Freizügigkeit auch für den Zugang zum Binnenmarkt mit allem Nachdruck aufrechterhalten müssen.
Die EU darf sich vom Brexit-Drama aber auch nicht absorbieren lassen. Es gibt in dieser Zeit zu viele Herausforderungen, die Kraft und Aufmerksamkeit erfordern. Die EU muss Sorge dafür tragen, dass alle Menschen an den Wohlstandsgewinnen des Binnenmarktes teilhaben. Lange, vielleicht viel zu lange haben die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten einseitig auf Wettbewerbsfähigkeit, auf Konkurrenz, aber auch auf Austerität gesetzt und die sozialpolitische Gestaltung der Union vernachlässigt. Das wird besonders daran deutlich, dass selbst der IWF die wachsende Ungleichheit bei Löhnen und Vermögen nicht nur als ein soziales Problem, sondern auch als ein echtes Hemmnis für wirtschaftliche Entwicklung versteht.
Wenn jetzt bald einer der heftigsten Bremser bei der Durchsetzung von sozialen Rechten nicht mehr mit am Tisch sitzen wird, dann eröffnet das neue Möglichkeiten, die wir nutzen müssen. Wir müssen sie auch im Sinne der Vorschläge, die die Kommission vorgelegt hat, nutzen. Bei diesen Vorschlägen geht es um faire Mobilität, eine verbesserte Koordinierung nationaler Sozialsysteme und die Schaffung einer sozialen Säule. Das sind wichtige Themen der zukünftigen EU-27.
Ich hoffe und erwarte, dass Kommissionspräsident Juncker bei seiner Rede zur Lage der Europäischen Union am nächsten Mittwoch das einst von ihm unter großem Beifall angekündigte soziale Triple A als einen der besonderen Schwerpunkte herausstellen wird.
Herzlichen Dank.